Die Muskeldsmorphie ist das zentrale Thema meines Buches und eine der schwerwiegendsten psychischen Folgen der körperbildzentrierten Fitnesswelt. Bei der Muskeldysmorphie handelt es sich um eine Unterform der Körperdysmorphen Störung (der Wortbestandteil "dysmorph" bedeutet so viel wie "fehlgestaltet"), welche wiederum in den übergeordneten Komplex der Zwangsstörung fällt. Grundlage für diese Klassifizierung ist das Standardwerk für psychiatrische Diagnostik, das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen (kurz: DSM-5). Das DSM-5 beinhaltet für alle klassifizierten Störungsbilder klar definierte Kriterienkataloge, die eine möglichst objektive Diagnostik der verschiedenen psychiatrischen Erkrankungen ermöglichen sollen. Da die Muskeldysmorphie einfach gesagt einen "Spezialfall" der Körperdysmorphen Störung darstellt, schauen wir uns zunächst an, nach welchen Kriterien eine solche Körperdysmorphe Störung im DSM-5 diagnostiziert wird und wie sich diese Symptome konkret bei den Betroffenen äußern. Diese Kriterien liegen auch bei der Muskeldysmorphie vor.
Hier erkennen wir bereits das Kernproblem dieser Erkrankung, nämlich die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper, welche für andere Menschen oft nicht nachvollziehbar ist, weil die vom Betroffenen wahrgenommenen Mängel für Außenstehende wenig bedeutsam erscheinen mögen oder überhaupt nicht erkennbar sind. Beispielsweise wird die eigene Nase als unschön, zu groß, schief oder anderweitig mit Mängeln besetzt wahrgenommen, wobei diese Wahrnehmung für Außenstehende völlig überzogen wirkt. Wie äußert sich das im Falle der Muskeldysmorphie? Ein Bodybuilder mit überdurchschnittlicher Muskelmasse sieht sich beispielsweise als sehr schmächtig - und damit in seinen Augen unattraktiv - an. Er ist also überzeugt von einem Mangel in seinem äußeren Erscheinungsbild, was für Außenstehende, die seine dicken Oberarme und seine durchtrainierten Beine sehen, nicht nachvollziehbar ist.
Hier finden wir das zentrale Merkmal der übergeordneten Kategorie der Zwangsstörung wieder. Mit "sich wiederholenden Verhaltensweisen" sind Zwangshandlungen (z.B. übermäßige Körperpflege oder andauerndes Betrachten im Spiegel) gemeint. "Mentale Handlungen" umschreiben Zwangsgedanken, also wiederkehrende Gedanken, die als belastend empfunden werden und meist kaum bis gar nicht kontrolliert werden können (z.B. ständiges Vergleichen des eigenen Aussehens mit dem von anderen).
"Die Person ist übermäßig beschäftigt mit der Vorstellung, dass ihr Körper zu klein oder nicht ausreichend muskulös gebaut ist."
Welcher enorme Leidensdruck aus diesem harmlos klingenden Satz erwachsen kann - schließlich hat doch jeder Mensch etwas an seinem Körper, mit dem er nicht zufrieden ist, oder? - wird anhand meiner persönlichen Geschichte im Rahmen dieses Buches deutlich.